“Zeigen, was mit minimalstem technischen Aufwand möglich ist.” INTERVIEW mit Markus Kaesler
Die einfachste Möglichkeit, eine optische Abbildung zu erhalten, ist die Camera obscura, eine Lochkamera. Ihr Prinzip ist denkbar einfach: Eine lichtdichte Boxe mit einer kleinen, verschließbaren Öffnung, durch die Licht einfallen kann. Dieses erzeugt in der Box, auf der der Öffnung gegenüberliegenden Seite ein auf dem Kopf stehendes Bild – je kleiner die Öffnung desto schärfer das “Bild”. Wird dort lichtempfindliches Material angebracht, entsteht so eine buchstäbliche “Foto-Grafie”, eine Licht-Zeichnung – ohne optische Linse, ohne Fotoapparat, ohne digitalen Speicher.
Der Heidelberger Fotograf Markus Kaesler hat die Lochkamera für sich entdeckt. Seit über zehn Jahren arbeitet er an unterschiedlichen Serien, die das gewohnte Aufnahmeprinzip – ein schnelles Klicken auf den Auslöser – umkehren. In Zeiten von Smartphone-Kameras, Selfiessticks, Instagram eine bewusste Entscheidung zur Entschleunigung.
Ein häufiges Motiv seiner Lochbild-Aufnahmen ist immer wieder die Architektur. In der Serie shapes of structure etwa verschmelzen die Gegensätze Statik und Bewegung: Die Lochkamera bedarf langer Belichtungszeiten, in der Regel kommt ein Stativ zum Einsatz. Was geschieht jedoch wenn eine kontinuierlich bewegte Lochkamera auf ein statisches Objekt trifft?
Es entstehen Aufnahmen wie in einem Schwebezustand. Die Oberflächenstrukturen lösen sich teilweise auf, die klaren Konturen verschwimmen noch mehr, fließende Übergänge entstehen, eine eigene Bildästhetik entfaltet sich.
Im Interview mit deconarch.com beschreibt Markus Kaesler den Reiz der Arbeit mit der Lochkamera, verrät, wie er dazu gefunden hat und erläutert die ganz praktische Arbeit damit.
all illus. (c) Markus Kaesler,
www.markuskaesler.de
INTERVIEW
Seit über zehn Jahren arbeitest du auch mit einer Lochkamera. Wie kam es dazu?
Die erste intensive Auseinandersetzung mit der Pinhole-Fotografie hatte ich bei der Umsetzung des Projektes Angkor through a pinhole – im weitesten Sinne auch ein architektonisches Thema.
Da die Monumente Angkors alle mit minimaler technischer Hilfe entstanden sind, stellte sich für mich die Frage, wie ich ihnen als Fotograf adäquat entgegentreten kann.
Um eine möglichst große Stämmigkeit zwischen Motiv und fotografischer Umsetzung zu erreichen, blieb für mich als angemessenes Aufnahmemedium nur die maximale Reduktion der Fotografie auf ihre optischen Grundlagen übrig. Das Prinzip der Camera obscura ist so alt wie die Fotografie an sich und war für mich daher das am besten geeignete Medium, um meine Idee der fotografisch minimalistischen Auseinandersetzung mit den Bauwerken Angkors umzusetzen.
Was ist für dich das Besondere an dieser Arbeit?
In erster Linie die Faszination, aus praktisch Nichts etwas zu erschaffen. Zu zeigen, was mit minimalstem technischen Aufwand möglich ist. Die Möglichkeit, das Licht weitgehend unmanipuliert auf dem Film zeichnen zu lassen. Es hat für mich etwas Ursprüngliches und Authentisches, ohne optische Korrektive zu arbeiten. Etwas Wahres.
Des Weiteren ist Zeit ein Aspekt, der mir bei der Pinhole-Fotografie sehr wichtig ist. Der relativ kleine Lochdurchmesser führt zu langen Belichtungszeiten. Dadurch wird jede Aufnahme zum Verweilen vor dem Motiv. Eine Reise in die Komplexität der Einfachheit, in eine Parallelwelt zur digitalen Bilderflut.
Wie ist die shapes of structure-Serie entstanden? Und wo?
Der Antwort auf diese Frage möchte ich vorausschicken, dass ich fast ausschließlich seriell arbeite und die meisten Serien Langzeitprojekte sind. Die Grundlage dieser Arbeiten ist meist eine Beschäftigung mit Materialitäten und Formen. Meist in einen internationalen Kontext gesetzt.
Ebenso bei shapes of structure.
Die Grundidee hinter der Serie ist die Verbindung der Gegensätze Statik und Bewegung und ihre harmonische Verbindung in einem Bild. Das Verschmelzen des Stromes der Zeit mit dem Statisch-Starren der Architektur.
Dieser Ansatz ergab sich aus den langen Belichtungszeiten der Pinhole-Fotografie, die in der Regel ein Stativ erfordern, und der Frage, was passiert, wenn eine kontinuierlich bewegte Kamera auf ein statisches Objekt trifft. Normalerweise entsteht Bewegungsunschärfe in der Fotografie durch die Bewegung des Objektes, während die Kamera ruht.
Im Spielraum dieses Schwebezustandes suche ich nach etwas, das ich “die Ruhe in der Bewegung” nenne und das sich in den Aufnahmen durch das teilweise Auflösen der Oberflächenstrukturen und der klaren Konturen zeigt, durch das Abtauchen ins Diffuse.
Die bisherigen Aufnahmen der Serie sind in Europa, Nord- und Südamerika entstanden.
Wie findest du die Motive deiner Serien?
Zum einen finde ich mögliche Motive in Architekturpublikationen oder im Internet. Zum anderen stoße ich bei Auslandsaufenthalten immer wieder auf interessante Strukturen und Formen, die mich dazu inspirieren, mich mit ihnen fotografisch auseinanderzusetzen, etwa mit den U-Bahn-Belüftungsschächten in Prag.
Sicher orientiere ich mich bei der Motivauswahl auch an Ikonen moderner Architektur, die auch bei maximaler Reduktion ihren Wiedererkennungswert nicht verlieren, wie z.B. Gebäude von Gaudí, Gehry, Ando oder Niemeyer.
Vor allem aber spielt für mich bei der Auswahl auch die Materialität eine große Rolle. Nicht jedes Bauwerk eignet sich für diese Art der Fotografie.
Des Weiteren möchte ich ein möglichst großes Spektrum an Formen finden und abbilden.
Wie lange belichtet so ein Lochkamera-Bild?
Zunächst einmal nehme ich mir relativ viel Zeit mit dem Bauwerk, bevor ich überhaupt anfange zu fotografieren. Ich muss ein Gefühl für die Architektur entwickeln und wie sie sich bei unterschiedlichem Sonnenstand verhält. So entsteht das Bild zunächst im Kopf. Die eigentliche Aufnahme ist dann der technische Part. Je nach Lichtverhältnissen belichte ich zwischen 15 Sekunden und etwa 2 Minuten aus der Hand.
Du erstellst auch die Abzüge selbst?
Ja klar. Das ist genauso wichtig für den entstehenden Bildeindruck wie die anderen Arbeitsschritte. Für mich stellt der gesamte Prozess, von der Motivauswahl über die Belichtung, das Entwickeln der Negative bis hin zum Abzug, eine Einheit dar.
Ebenso wie bei der Auswahl der Motive die Materialität einen wichtigen Stellenwert besitzt, trifft dies auch auf die Abzüge zu. Und so, wie der Ansatz der Serien eher traditionell angelegt ist, ist es auch die Präsentation. Alle Abzüge sind Handabzüge auf traditionellem Barytpapier. Jedes Papier hat seinen eigenen Charakter, der sich in Kombination mit einem bestimmten Entwickler in die ein oder andere Richtung steuern lässt.
Auch in anderen Serien arbeitest du mit Stadt und urbanen Räumen …
Wie gesagt, ich arbeite fast ausschließlich in Langzeitprojekten. Alle haben einen ungefähren Startpunkt, sind aber auf zeitlich unbegrenzte Zeit angelegt.
So zum Beispiel neben shapes of structure auch shadows on concrete, die sich damit beschäftigt, dass Beton in Zusammenspiel mit Licht Räume entstehen lässt, die frei von geografischen Faktoren zu sein scheinen. Beton, Schatten, monochromer Himmel. Das lässt die Fotografien beides beinhalten: Heimat und Fremde. Licht und Schatten. Die Gegensätze sind nicht mehr fix, sondern verändern sich mit dem Lauf der Sonne. Der reale Ursprung der Fotografie verliert, durch die Universalität des Werkstoffes in Zusammenspiel mit Licht, an Bedeutung und es können sich Fragen stellen wie: Bewegen wir uns in Richtung einer uniformen, weltweit austauschbaren Realität? Was passiert, wenn wir Heimat und Fremde nicht mehr unterscheiden können? Und inwiefern entstehen Grenzen mehr in unseren Köpfen als durch geopolitische Faktoren?
Oder auch crossing cities …
Da die meisten Serien global angelegt sind, und da es sich aus transportlogistischen Gründen anbietet, versuche ich so viel wie möglich parallel zu arbeiten. Während ich an der einen Serie arbeite, behalte ich die anderen im Hinterkopf.
crossing cities z. B. ist ein visueller Schmelztiegel von Städten. Es verbindet Städtepaare in verschiedenen Ländern – London – Lissabon etwa, Paris – Prag und Berlin – Bukarest – und vereint sie auf einzigartiger fotografischer Weise; ein Teil der Pinhole-Aufnahmen wird in der einen, der andere in der jeweils dazugehörigen Stadt aufgenommen. Auf dem identischen Planfilm.
Jeder Ort hat seinen ganz besonderen Charakter, geprägt von kulturellen Werten, Religion und geografischen Begebenheiten. Wenn man dies im Hinterkopf behält, bedeutet das Übereinanderlegen von Städten verschiedener Länder in eine Serie, die essenzielle Teile beider Orte enthält, nicht nur das physische Überschreiten von Grenzen.
Durch das diametral entgegengesetzte Doppelbelichten enstehen Fotografien, die von beiden Seiten aus betrachtet werden können. Abhängig, von welcher Seite aus man sie betrachtet, liegt der Fokus auf einem anderen Bestandteil des Bildes. Andere wiederum werden vernachlässigt. Der Unterschied der Orte zeigt sich im selben Umfang als das sich neue Verbindungen erschließen.
Neue Formen und Strukturen werden sichtbar, während der spezielle Charakter der jeweiligen Orte bestehen bleibt. Das bereits Bekannte wird ergänzt und führt zum Unbekannten. Die Belichtungen fließen ineinander. Eine Art von Dazwischen entsteht.
Das Alphabet dient als strukturierendes Grundmuster. Die Städte werden nach ihrem Anfangsbuchstaben ausgesucht und kombiniert. Daraus ergibt sich der Umfang von 52 Städten in 52 Ländern. Am Ende wird es zu jedem Buchstaben ein Städtepaar geben, bei dem sich die Länder nicht wiederholen.
Dieser Umfang ermöglicht mir, auch an den unterschiedlichsten Orten Ausschau nach Motiven zu halten, die dann die anderen Serien weiterführen.
In ähnlicher Weise ist auch gigapolis aufgebaut.
gigapolis beschäftigt sich auf fotografisch ähnlicher Weise wie shapes of structure mit Megastädten dieser Welt. Angezogen vom magischen Pulsschlag dieser Zentren strömen Menschen in die Metropolen. Mit all ihren Wünschen und Träumen, deren Erfüllung sie in den Megacities suchen. Wie ein Dunstschleier liegen diese Erwartungen über jedem neuen Tag, der sich immer weiter ausbreitenden undefinierbaren Masse aus Verkehr und Architektur. Jener in einander greifenden Melange aus Struktur und Chaos, die wie ein Meer aus Stahl und Beton über die Erdoberfläche fließt.
So verschmelzen im Entstehungsprozess der Serien einige Konzepte mit komplett unterschiedlichen Ansätzen für mich untrennbar miteinander.
In Zeiten von Digitalfotografie, Photoshop und Smartphones – warum die Camera obscura?
Reduktion sehe ich zunehmend als Leitmotiv meiner Arbeiten. Das Vereinfachen von Formen, die Rückführung der Fotografie zu ihren optischen Grundlagen sowie farbliche Reduktion betrachte ich als Grundlage meines fotografischen Schaffens. Die sich daraus ergebende Umsetzung mit (selbst konstruierten) Lochkameras ist eine logische Folge dieses Ansatzes. Eine Art “weniger ist mehr”, das für mich auch einen Gegenpol zu einer von mir als zu schnelllebig und unruhig empfundenen Zeit darstellt. Nicht allein vom gedanklichen Ansatz her, sondern vor allem auch im Schaffensprozess. Mich faszinieren die Möglichkeiten, die mir die Auseinandersetzung mit diesen elementaren fotografischen Grundlagen bietet, immer wieder von Neuem. Sowohl im bildgestalterischen und konzeptionellen Bereich, als auch bei der Möglichkeit den Bildeindruck über die Auswahl der Materialien mitzubestimmen. Dabei bevorzuge ich die Verwendung von traditionellen Materialien und versuche, mir ihre charakteristischen Eigenschaften so zu eigen zu machen, dass sie mit der Bildsprache ein harmonisch stimmiges Ganzes ergeben.
Markus, herzlichen Dank für die Einblicke in die Arbeit mit der Camera obscura!