„Die Architektur aufzeigen ohne Vorauswahl, ohne Präferenzen.“ INTERVIEW mit Peter Ortner

Eigenwillige Bauten stehen da, in oft monotoner Landschaft. Teils aufwändig dekoriert, teils futuristisch anmutend, immer auffallend, massiv, präsent. Es sind – Bushaltestellen. Wartehäuschen an Landstraßen in ehemaligen Sowjetstaaten wie Usbekistan, Aserbaidschan oder Armenien. Für den westlichen Blick, der zum Warten zweckmäßige Glasverschläge, oft kaum mehr als Wind- und Regenschutz, gewohnt ist, austauschbar und kaum beachtet, sind diese Bauwerke erstaunlich extravagant. Und umso überraschender ist auch, dass es sich hier um profane Sowjetarchitektur handelt, die doch grau und trist ist? 

Ortner. JovisSeit 2009 sammelt der Fotograf Peter Ortner Ansichten solcher Bushaltestellen, spürt sie auf ausgedehnten Reisen auf und hält sie fotografisch fest. Entstanden ist ein Panoptikum einer überraschenden Formen- und Farbenvielfalt einer eklektischen Mikroarchitektur. Eine kleine Auswahl dieser Ansichten ist in einem schönen Fotobuch zusammengefasst, das vor Kurzem im jovis Verlag erschienen ist: Back in the USSR. Soviet Roadside Architecture from Samarkand to Yerevan. Es lädt ein zu einer Schau- und Denkreise quer durch ehemalige Sowjetrepubliken und offenbart eine überraschende Vielfalt architektonischer Typologien im Kleinformat.

Im Interview mit deconarch.com erzählt Peter Ortner, wie er zu den ungewöhnlichen Bauwerken als Motiv seiner Fotoserie gefunden hat, gibt Einblick in seine Arbeitsweise und verrät, was auf der Suche nach Bushaltestellen in ehemaligen Sowjetstaaten so alles passieren kann.

all illus. (c) Peter Ortner
www.freilichter.de

INTERVIEW

Bushaltestellen in ehemaligen Sowjetstaaten – wie kam es zu diesem besonderen Thema?

Am Sewansee, Armenien

Am Sewansee, Armenien

2008 machte ich zusammen mit meiner Frau eine Reise durch Usbekistan nach Kirgisien. Inspiriert von den wunderbaren Romanen von Tschingis Aitmatow wollten wir unbedingt in seine Heimat und die Kraft seiner Literatur spüren.

Die Reise führte uns zuerst entlang der Seidenstraße. Auf der Fahrt mit Sammeltaxis oder Bussen fielen uns, eigentlich erst nach ein paar Tagen, diese komischen Gebilde am Straßenrand und an Taxihaltestellen auf. Ich begann, sie genau zu betrachten und zu suchen. Ich reiste jedoch ohne Ausrüstung, da ich auf Reisen und ohne Konzept selten fotografiere.

Innerhalb des nächsten Jahres reifte der Entschluss, sie alle, entlang einer Route der Seidenstraße, zu dokumentieren. Ziel sollte eine serielle Ablichtung, ohne selektive Motivauswahl, ohne besondere Standort- oder Hintergrundauswahl sein. Eine unperfekte Reihung, so unperfekt wie die Bauwerke. Das gewöhnliche Bauwerk erzeugt in gewöhnlichen Bildern Raum zum Nachdenken und Entdecken. Eine Architekturgeschichte ohne Präferenzen, ohne Vorauswahl. Im besten Sinne unspektakulär!

Wie ging dann die Umsetzung des Vorhabens vor sich?

In etwa 6 Wochen gelang mir die Umsetzung in Usbekistan. Jedoch war die fotografische Umsetzung aufgrund stark befahrener Straßen und einer gleißenden Mittagssonne mitunter schwierig. Einige Haltestellen entpuppten sich als schwarze Löcher oder ich musste sehr lange warten, um eine Lücke im vorbeifahrenden Schwerlastverkehr zu finden.

Uzbekistan, Seidenstraße

Uzbekistan, Seidenstraße

Zudem ergaben sich zeitliche Probleme. Bei Entfernungen zwischen Städten von bis zu 500 km konnte ich teilweise an einem Tag eine Route gar nicht ganz abfahren. Auch die Polizei und Behörden störten teilweise. In einigen Staaten verlangten die örtlichen Streifen oft unberechtigte Strafen oder direkte persönliche Zuwendungen. Diese Diskussionen kosteten oft sehr viel Zeit und nötigten mich auch zum Warten!

Die Reisenden auf der Straße und an der Strecke waren jedoch immer wunderbar und sehr höflich! Ich lernte sehr viele Menschen kennen, wurde zu deutschen Unterrichtsstunden eingeladen, es entwickelten sich Gespräche.

Wie wählten Sie die Haltestellen aus?

Ziel war es, alle Haltestellen entlang einer Route der Seidenstraße aufzunehmen. In einigen Ländern gibt es aber keine Haltestellen. Oder es herrscht Krieg. Daher war die Route ein Kompromiss: Nach der Arbeit in Usbekistan besuchte ich Aserbaidschan, Georgien und Armenien. Glücklicherweise gelangte ich noch auf die Krim und konnte große Teile der Ukraine durchfahren. Auf der Seidenstraße begann meine Serie und ich wollte meine fiktive Route entlang einer zumindest möglichen Fortsetzung der Seidenstraße weiterführen. Eine Straße, die man durchgängig fahren könnte, um China zu erreichen.

Leider sind in einigen Ländern durch Modernisierung und durch den Bau von Autobahnen viele der Haltestellen weggefallen oder wurden ersetzt, auch da war eine längere Suche angesagt. So stand immer schon lange vor der eigentlichen Foto-Reise die Recherche nach der „perfekten“ Wunschroute und den dortigen Haltestellen.

Es war mir wichtig, eine Dokumentation zu erzeugen, keine Selektion der Besten oder Pompösesten. Somit wurden auch immer alle Wartezonen entlang einer Strecke dokumentiert. Wichtig sind dann die sich daraus ergebenden Unterschiede, Schattierungen, Entwicklungen, auch bei grundsätzlich gleicher Bauweise oder Form.

Sind die Bushaltestellen noch aktiv?

Ukraine

Ukraine

Jede dieser Haltestellen wird noch genutzt! Meistens durch lokale oder Fernbusse, die ohne Fahrplan immer irgendwann kommen. Diese Architektur ist eben kein Relikt, kein Museum, sondern mit Leben gefüllt. Taxifahrer warten, Menschen steigen aus Privatwagen aus oder Hirten nutzen sie als Sonnenschutz.

Ist auch das Thema „Warten“ relevant für das Konzept dieser Serie?

Öfters wartete ich auch an diesen Haltestellen oder bei Polizeikontrollen oder Pannen. Warten ist ja im Sozialismus und auch in den Nachfolgestaaten immer noch ein großes Thema. Jedoch wird es vielleicht nicht so negativ gesehen wie bei uns. Es wird angenommen und oft anderweitig genutzt. Als Pause, als Kommunikationskanal. Insofern sind hier schon architektonische Ruhepunkte entstanden, die selbst durch einen Paradigmenwechsel ihren primären Zweck immer noch erhalten haben.

Welche Themen interessieren Sie in Ihrer fotografischen Arbeit generell?

In meinen freien Arbeiten grundsätzlich Architektur, Formen, Oberflächen. Material, Strukturen, der Osten, Brutalismus, russische Avantgarde und Moderne.

Architektur im Kontext der Veränderung, im Kontext des Alltags.

Dazu Menschen als Urform, Schatten, Möglichkeiten von Formen.

Im Detail betrachte ich aber dann nicht obige Sujets in Reinform, sondern Metamorphosen, Begegnungen von Natur und Architektur, die sich durch Veränderungen ergeben, nicht-geplante Begegnungen von organischen Formen und gebauten Linien. Großartige Ruinen oder Relikte von guter Architektur. Wie entwickelt sich Raum und Oberfläche? Zeitläufe, keine Ruinenästhetik.

Wie finden Sie ihre Themen und Motive?  

Aserbaidschan

Aserbaidschan

Zuerst findet mich meistens das Thema. Dazu recherchiere ich sehr viel, schaue mir Bilder an, lese Texte, arbeite mich in ein Fachgebiet ein und besuche den Ort oder die Orte oft erst einmal ohne Kamera, versuche Experten zu kontaktieren, mit Menschen zu sprechen. Das Verbildlichen ist somit eigentlich der letzte Prozess, der Abschluss der geistigen Arbeit, Handwerk. 

Können Sie dieses Interesse etwas näher beschreiben?

Ein Beispiel: Architektur des Brutalismus, ein böses Wort für teilweise schöne oder gar geniale Bauwerke. Etwa das Istituto Marchiondi Spagliardi, ein Kinderheim bei Mailand, gebaut 1953 bis 1957 von Viganò. Ein bedeutsamer Bau, auch in soziologischer Hinsicht, Architektur sollte hier wirklich etwas bewirken, wirken, aber auch funktionieren.
Heute verfällt das Institut.

Wie korrespondiert die Natur mit diesen leeren Hüllen, was ist das Organische auf diesem Bild? Wie verändert sich der Blick, die Perspektive, das Zentrum? Welche Bedeutung hat die ursprüngliche Form heute noch?

Sie sind von den Geisteswissenschaften zur freien Fotografie gekommen. Warum?

Auf der Krim

Auf der Krim

Dieser Weg ist ja eigentlich kein weiter Weg. Es ist ein Weg vom Denken zum Abbilden. Ich habe mich schon immer auch mit Fotografie beschäftigt. Nur für die freien Arbeiten sollte immer auch eine gewisse Grundlage vorhanden sein. Ein Verwerten und Analysieren des Kulturbegriffs für eine bestimme Konstellation oder Situation. Erst entsteht die Konzeption, danach die Bildsprache.

Welche Möglichkeiten eröffnet Ihnen die Fotografie?

Ausdruck meiner Ästhetik, Einsprüche gegen unsere geschönte und normierte Bilderwelt, Aufzeigen von Alternativen, Innehalten, Reizpunkte und Widerspruch setzen und empfangen.

Digital oder analog?

Größtenteils digital. Den ersten Teil der Haltestellen habe ich jedoch noch mit einer analogen Kamera zusätzlich in S/W aufgenommen. Diese Bilder haben einen ganz anderen Charakter, sind eher grafisch. Der Osten wird jedoch meist eher negativ wahrgenommen, grau, eintönig, gefährlich und arm. Ich entschied mich daher für eine stärker farbige Vorgehensweise, ein buntes Spektrum, näher am Leben. Wichtig war die Betonung der positiven Seiten, der Farben, des Gebrauchs. Den Wunschvorstellungen westlicher Betrachter sollten die Bilder nicht entsprechen.

Somit farbig und digital.

Gibt es besondere Vorbilder, Inspirationen?

Georgien

Georgien

Bei den Bushaltestellen sind es ganz klar Bernd und Hilla Becher. Sie hatten ja eine ähnliche Intention. Allerdings arbeiteten sie auf einem technisch höheren Niveau, hatten aber auch andere Objekte. Ich wollte diese Perfektion aber gerade nicht.

Woran arbeiten Sie aktuell? Gibt es eine weitere Serie, die Sie vorstellen möchten?

Ich arbeite weiter mit und in der Architektur. Der Schwerpunkt liegt hier momentan eindeutig auf dem Thema Beton. Wie verändert er sich, was macht er mit uns, mit der Natur?

Neu-Belgrad, mit einer sehr interessanten Architektur, die in der westlichen Fachliteratur noch nicht vollständig aufgearbeitet worden ist.

Und diverse Serien und Reportagen, die aber noch nicht abgeschlossen sind. Dabei kommen auch wieder Menschen mit ins Spiel. Und Geschichten.

Und natürlich weiterhin: Haltestellen. Weißrussland ist schon in Planung.

Peter Ortner, herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!

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