“Das Bild moderner Architektur ist vor allem durch die Fotografie vermittelt. Die nicht selbst erlebten Räume werden zu Bildern.” INTERVIEW mit Christine Erhard
Aus aktuellem Anlass! | deconarch.com freut sich sehr, ein Interview mit Christine Erhard, Preisträgerin des Merck-Preises 2014 zu präsentieren. Im Rahmen der 8. Darmstädter Tage der Fotografie wurde am Wochenende zum fünften Mal der Merck-Preis der Darmstädter Tage der Fotografie (25. bis 27. April 2014) vergeben, der vom Darmstädter Pharma-, Chemie- und Life-Science Unternehmen Merck gestiftet wird. Das Thema der Ausschreibung lautete “Reflexion – Ästhetische Referenzen”. Herzlichen Glückwunsch Christine Erhard! (Mehr Infos zum Merck-Preis hier).
Ausgezeichnet wurde Erhards Serie “Moskau Intervention”, in der die Fotokünstlerin mit medialen Grenzen ebenso spielt wie mit Gattungen und historischen Arbeiten. Ausgehend von Architekturfotografien und Malereien der russischen Avantgarde der 20er Jahre, vor allem des Konstruktivismus, entstehen – meist anamorphotische – Raummodelle, die im realen Raum platziert werden, im Atelier ebenso wie vor einer fotografischen Gebäudeansicht vor Ort (sprich: die von Fotografien bekannte Bauansicht wird vor Ort aufgesucht).
Dabei werden die Inszenierungen der Modelle im Realraum auf einen bestimmten Kamerastandpunkt hin ausgerichtet, die klassische Fotografensituation wird buchstäblich auf den Kopf gestellt: Nicht das Motiv bestimmt die Kameraposition, sondern die Kamera bestimmt das Motiv -Raum und Modell werden auf einen einzigen Kamerablickpunkt hin arrangiert.
In Erhards Arbeiten werden historische zweidimensionale Bilder zum Vorbild, zum “Material” für Konstruktionen, die wiederum – nach oft wochenlangen Bauprozessen – in einer Fotografie festgehalten werden. Mehrere Realitäts- und Wahrnehmungsebenen überlagern sich. Nicht nur die Möglichkeiten des Fotografierens werden ausgelotet, sondern auch das Spiel mit zwei- und dreidimensionalen Medien.
Diese fotografischen Momentaufnahmen eines skulpturalen Konstruktionsprozesses werden schließlich im Ausstellungsraum zu einem Ensemble inszeniert – und auf diese Weise um eine weitere Wahrnehmungsebene erweitert: Die Fotografie, die eine Rauminszenierung festgehalten hat, wird selbst zum raumgestaltenden “Material” und damit gewissermaßen zum Bestandteil einer raumgreifenden Installation/Wandbildes.
Mit deconarch.com hat Christine Erhard über den komplexen Entwicklungsprozess ihrer Arbeiten gesprochen und verraten, was sie gerade an der Auseinandersetzung mit Architektur und Architekturbildern interessiert.
all illus. (c) Christine Erhard
INTERVIEW
In der Serie „Moskau Intervention“ wurden Fotografien der russischen Moderne der Zwanziger Jahre Ausgangspunkt Ihrer Arbeiten – was hat Sie am russischen Konstruktivismus interessiert?
Mich interessiert die Moderne insgesamt als Geisteshaltung und ästhetische Ausformung. In meinem bisherigen Werk habe ich immer wieder verschiedene Strömungen der Moderne einbezogen, beispielsweise Arbeiten des „Neuen Bauens“ oder des Werkbundes.
Durch einen längeren Arbeitsaufenthalt in Moskau hatte ich die Gelegenheit, mich speziell mit Bauten des russischen Konstruktivismus auseinanderzusetzen. Die Fokussierung auf diese Strömung lag für mich sehr nahe, da mir die Gebäude der Moskauer Architekturavantgarde durch Publikationen sehr präsent sind und ich diese Bilder mit ihrem Erscheinungsbild vor Ort abgleichen wollte. Bei meiner Recherche konzentrierte ich mich auf die Zeitspanne von 1922 bis 1932, dieser kurzen Aufbruchphase, in der es möglich schien, eine neue Lebensform und eine neue Ästhetik für eine neue Gesellschaft zu schaffen.
Allzu viel ist aus dieser Phase baulich nicht erhalten …
Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen der Sichtbarkeit dieser Gebäude in der Stadt und dem weltweiten Ruhm der russischen Avantgarde durch ihre mediale Verbreitung. Oft musste ich die einzelnen Gebäude mühsam suchen, die Bauten gehen häufig im Stadtbild unter, sind in schlechtem baulichen Zustand oder zum Teil nicht mehr vorhanden.
Mich interessierte zunächst vor allem der Abgleich zwischen den historischen Fotografien, die mir vorlagen, beispielsweise von Rodtschenko oder Iljin, und dem tatsächlichen Erscheinungsbild vor Ort.
Der zweite und erst sehr viel spätere Schritt war für mich, diese physische Erfahrung und die dort entstandenen Bilder in künstlerische Arbeiten zu übersetzen. Die reine Dokumentation dieser Gebäude genügte mir dabei nicht, vielmehr versuchte ich, mir ein neues „Bild“ von diesen Bauten zu machen. Dabei benutzte ich suprematistische Malereien (beispielsweise von Lazlo Moholy Nagy oder El Lissitzky), um ein prägnantes kompositorisches Gesamtbild zur Grundlage zu haben. Die Malerei dient hier als formale Basis, in die weitere Bildelemente eingefügt und mit dieser verknüpft werden.
Sie sagen, dass Sie sich buchstäblich ein neues, eigenes Bild von der konstruktivistischen Architektur machen. In gewisser Weise werden Sie damit selber “architektonisch” tätig und gestalten Raum: Sie bauen Modelle, und “Baumaterial” sind dabei moderne Bauten (in Form von Fotografien). Können Sie Ihren Arbeitsprozess ein wenig erläutern?
Meine Bilder sind tatsächlich „gebaut“. Meine fotografischen Arbeiten sind aus einem bildhauerischen Prozess heraus entwickelt und gleichen dreidimensionalen Architekturmodellen, allerdings sind sie perspektivisch verzerrt und auf einen bestimmten Kamerastandpunkt hin konstruiert. Häufig ist in den Aufbau zweidimensionales Bildmaterial eingearbeitet. Die Materialien und Bildfragmente, die in meinen Arbeiten erscheinen, waren zum Zeitpunkt der Aufnahme tatsächlich physisch vorhanden.
Ausgangspunkt für eine Bildidee ist oft gefundenes, manchmal historisches Bildmaterial. Die Bildidee ist dabei schon vor der eigentlichen Bildfindung vorhanden, d.h. ich durchforste mein Bildarchiv oder Kunst/Architekturkataloge nach Bildern, die meiner Bildvorstellung entsprechen.
Wie übertragen Sie diese Bildideen dann in Ihre Modelle und Fotografien?
Ausgehend von dieser Bildidee konstruiere ich meinen Bildgegenstand mit Hilfe von Modellen aus Pappe und verschiedensten Alltagsgegenständen. Häufig geschieht dies mittels anamorphotischer Modelle, d.h. die Modelle sind auf einen bestimmten Kamerastandpunkt hin konzipiert und erscheinen verzerrt, wenn dieser Standpunkt verlassen wird.
Diese Konstruktionen sind mit Fotooberflächen bezogen, die ebenfalls perspektivisch auf den Kamerastandpunkt hin ausgerichtet sind. Die Modelle sind nach den Gesetzmäßigkeiten der Linearperspektive konstruiert und entsprechen damit unseren Sehgewohnheiten.
Das konstruierte Objekt wird zusammen mit dem Atelierumraum oder im Außenraum in realer Umgebung aufgenommen. Die einzelnen Bildfragmente und Materialien werden durch ihre fotografische Reproduktion auf einer gemeinsamen Bildoberfläche zusammengeführt. So treffen in meinen Bildern verschiedene Blickführungen, unterschiedliche Größenverhältnisse und Raum- und Zeitebenen aufeinander.
Woher kommt die Faszination für bauliche Formen, für Architektur, gestalteten Raum?
Die Beschäftigung mit Motiven der Architektur begann schon während meiner Studienzeit, als ich mich zunächst mit meinem direkten (Wohn-)Umfeld auseinandersetzte. Ich nahm gestaltete Gegenstände aus meiner Umgebung wie Stühle, Tische und Schränke und arbeitete künstlerisch mit diesen, indem ich sie zweckbefreit in neue Zusammenhänge stellte. Die so entstandenen bildhauerischen Arbeiten bewegten sich im Kontext von Möbel/Skulptur und Innenraum. Von diesen Objekten und Raumkonstellationen machte ich Fotos, die anfangs rein dokumentarische Zwecke erfüllten.
Später jedoch fertigte ich die Objekte ausschließlich zum Zwecke ihrer fotografischen Reproduktion an. Aus diesem Interesse heraus fing ich auch damit an, Abbilder von Architektur zu sammeln. Im Vordergrund stand dabei immer die Vorliebe für das Bild, die Übersetzung von Raum, Skulptur und Architektur in ein Bild.
So begann ich damit, mich mit der Abbildungsgeschichte von Architektur, hauptsächlich mit der Architektur des „Neuen Bauens“ auseinanderzusetzen. Am Bauhaus und in Vorläufern im Werkbund erlangte die Architekturfotografie als Darstellungsmedium des „Neuen“ eine enorme Bedeutung (Neues Bauen, Neues Sehen, Neue Sachlichkeit).
In dieser Zeit entwickelten Architekten spezifische Strategien des Umgangs mit dem fotografischen Medium. Sie benutzten so die Fotografie als Vehikel, um ihr Idealbild einer neuen Architektur zu propagieren. In Publikationen und erstmals auch in Ausstellungen entwickelten sich Darstellungsformen in der Fotografie, die schließlich stilbildend gewirkt haben.
Das Bild moderner Architektur ist vor allem durch die Fotografie vermittelt. Einige Bauten haben sich erst durch die Fotografie ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Die nicht selbst erlebten Räume werden zu Bildern. Mich interessiert dabei vor allem, inwieweit unsere allgemeine Vorstellungswelt sehr viel mehr von Bildern als durch eigene Erfahrung geprägt ist.
Was passiert eigentlich mit den Modellen? Werden sie nach Abschluss zerstört oder können Sie auch mal in einer Ausstellung zu sehen sein?
Da die Modelle immer Hilfsmittel für ein bestimmtes Bild sind und auf einen bestimmten Augpunkt hin konstruiert sind, funktionieren sie nicht als eigenständige Objekte und werden deshalb nicht ausgestellt. Meist werden sie nach Gebrauch zerstört.
Sie kommen aus der Bildhauerei – warum gerade Fotografie, als „letzte Stufe“ im Werk? Welche Vorteile bietet sie?
Die Fotografie ermöglicht die Fixierung verschiedenster Objekte und Gegenstände auf einer Bildebene, so kann ich meine Aufbauten in räumlichen Zusammenhängen festhalten, in denen der Eindruck räumlicher Diskontinuität ganz bewusst erzeugt wird. Dabei entwickelt sich eine Form von „Bildrealität“, die es gestattet, beispielsweise einen Schreibtisch oder Heizkörper zu einem urbanen Kontext umzudeuten. Was vor die Kamera kommt, war in dieser Konstellation tatsächlich vorhanden (um Roland Barthes zu zitieren: „es ist so gewesen“).
Das fotografische Bild als letzte Stufe im Werk ermöglicht es mir, einen komplexen Zustand festzuhalten, der unterschiedliche Deutungen zulässt. Meiner Arbeit liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Fotografie von ihrer Aufgabe entbunden ist, bloße Analogien zur Realität herzustellen. Ich begreife die Fotografie als eine dieser Realitäten, die ich in meinen Bildaufbauten frei miteinander kombiniere und ineinander montiere.
Daneben ist es mir mit meiner Methode zu fotografieren möglich, unterschiedliche Zeit- und Raumebenen in einem Bild zu vereinen, dadurch kann ich zu in räumlicher Hinsicht äußerst mehrdeutigen Bildern gelangen.
Arbeiten Sie auch noch mit anderen Medien?
In meinen Arbeitsprozess sind die unterschiedlichsten Medien eingebunden, die in meinen Werken nicht mehr unbedingt offensichtlich sind. Beispielsweise gehen den Fotografien detaillierte Zeichnungen oder Collagen voraus. Bei der Entstehung eines Bildes nutze ich Medien wie Malerei, baue dreidimensionale Gegenstände oder benutze die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung. Mein Arbeitsansatz ist an den Schnittstellen zwischen unterschiedlichen künstlerischen Strategien und technischen Verfahren angesiedelt.
Desweiteren arbeite ich vermehrt mit Rauminstallationen, indem ich die Bilder in ein gebautes Umfeld zurückführe. So habe ich z.B. Tapeten entwickelt, die in ihrer Ornamentik architektonische Strukturen zitieren. Diese Strukturen wurden zuvor in Styropor oder Pappe nachgebaut, fotografiert und aus diesem Fotomaterial entstand die Tapete.
Mit diesen Tapeten belege ich ganze Räume oder auch nur Raumelemente, auf denen dann meine fotografischen Arbeiten gehängt werden.
Das fotografische Bild wird in diesen installativen Arbeiten zum Körper, der zwischen flächigem Ornament, räumlichem Illusionismus und Skulptur changiert.
Christine Erhard, herzlichen Dank für die Informationen – und noch einmal Gratulation zum Merck-Preis!