„Architektur ist für mich Form und Raum gewordenes menschliches Bewusstsein.“ INTERVIEW mit Esther Hagenmaier
Esther Hagenmaiers shaped photographies sind Fotografien, begegnen den Betrachtern aber wie konstruierte Wandobjekte, die oft erst auf den zweiten oder dritten Blick ihren – optischen – architektonischen Ursprung verraten.
Mit den shaped photographies wolle sie neue Wahrnehmungsfelder eröffnen, sagt Hagenmaier. Es sind die Momente, in denen die Eindeutigkeit und damit die Sicherheit kippen, die die Künstlerin interessieren. Die Momente, wenn das Bewusstsein des Betrachtenden darüber ins Schwanken gerät, was oben, unten, vorn oder hinten ist und wenn die Lesbarkeit des Motivs changiert. Wie werden Raum, Bildraum wahrgenommen?
Mit den Mitteln der Fotografie lotet Hagenmaier die Grenzen des Mediums aus. Sie beschneidet das fotografische Bild in einem Ansatz, der dem dem menschlichen Sehvorgang ähnelt: Beim Sehen fokussiert der Blick und blendet gleichzeitig Unwichtigeres aus. Im Beschnitt wird Unwichtiges entfernt, die Bildkanten neu definiert. Was das Bildobjekt zeigt, war so existent – wenngleich nicht für jeden sichtbar.
deconarch.com hat mit Esther Hagenmaier über Ihre Arbeit gesprochen – wie Ihre Aufnahmen entstehen, welchen Fragen der Räumlichkeit sie nachspürt und wie Architektur sie inspiriert.
all illus. (c) Esther Hagenmaier und VGBildKunst
esther-hagenmaier.com
INTERVIEW
Die shaped photographies basieren auf Fotografien, begegnen den Betrachtern aber wie konstruierte Wandobjekte, die oft erst auf den zweiten oder dritten Blick ihren – optischen – architektonischen Ursprung verraten. Wie ist Ihr Arbeitsprozess: Gehen Sie konzeptionell vor oder „finden“ Sie Ihre Themen während des Arbeitens?
Es ist kein Entweder-Oder, sondern mehr ein Halb-Halb: Bei den shaped photographies, die ja von Architektur, von Aufnahmen architektonischer Details ausgehen, ist dies eine Art übergeordnetes Thema. Das heißt, ich betrachte Architekturen unter diesem Aspekt – was könnte ein guter Ausgangspunkt für neue Arbeiten sein? – und sammle an verschiedenen Gebäuden fotografisches Material für diese Werkgruppe.
Da jedes Motiv sein Thema in sich trägt, entsteht dieses nicht bei mir im Kopf, sondern ich reagiere auf das in der Realität Vorgefundene und versuche, das Spezifische eines Motives durch den Beschnitt, die weitere Reduktion, zu verstärken und deutlicher hervortreten zu lassen oder zuzuspitzen. Meine subjektive Art des Fotografierens schafft ebenfalls bereits Abstand zur Realität.
Ob es zum Beispiel eher um eine grafische Konstellation aus Linien geht oder um Linien und Flächen, um malerische Qualitäten das Materials, Farbe, Strukturen, oder ob ein räumlicher Kippeffekt da ist, ob Rhythmus eine starke Rolle spielt, ob schräge Linien vorherrschen oder rechtwinklige – das gibt mir das Motiv vor, ist in ihm angelegt. Deswegen können auch die Abstraktionsgrade der Arbeiten unterschiedlich sein. Es gibt für den Beschnitt kein Rezept, das ich immer wieder anwenden könnte, jedes Motiv ist individuell.
Sie haben schon angedeutet, dass Sie bereits während des Fotografierens gewissermaßen in die „Bildbearbeitung“ einsteigen. Wie entsteht eine shaped photography ganz praktisch?
Der Ausgangspunkt für die shaped photographies ist, wie gesagt, Architektur. Ich nehme klare, geometrische Baukörper oder prägnante Schattenwürfe in den Blick und suche sie nach interessanten Zusammenhängen von Linie, Fläche, Form und Farbe ab. Schon bei der Aufnahme wähle ich den Bildausschnitt so reduziert und abstrahierend wie möglich. Ich nutze die Möglichkeit, durch einen gezielt gewählten Kamerastandpunkt das Zueinander der Elemente im Sucher zu beeinflussen und komponiere mit Linien, Kanten, Licht- und Schattenflächen oder verknüpfe durch die Perspektive voneinander entfernte Flächen.
Dadurch findet bereits beim Aufzeichnen des Bildes eine Verfremdung mit rein fotografischen Mitteln statt, das Motiv erfährt eine erste Transformation. Die so festgehaltene Abbildung der Architektur unterscheidet sich vom alltäglichen, beiläufigen Blick auf Gebäude. Daher nehmen Betrachter*innen oft an, die Bilder seien konstruiert oder ich würde einzelne Elemente nachträglich digital zusammenfügen.
Diese Fotografien sind Anfangspunkt und Ausgangsmaterial für den weiteren Arbeitsprozess im Atelier. Um deutlicher herauszuarbeiten, was für mich der ursprüngliche Bildanlass war, reduziere und fragmentiere ich das fotografische Bild noch weiter: Durch Abdecken von den Kanten her werden unwesentliche Partien ausgeblendet. Langsam entsteht eine neue geometrische Umrissform, der Bildinhalt wird weiter konzentriert. Dieser Vorgang ist bei jedem Motiv individuell und eine Reaktion auf die darin vorhandenen Elemente. Außer diesem Wegnehmen findet kein nachträglicher Eingriff in den Bildinhalt statt.
Wenn die neue Umrissform gefunden ist, definiere ich, wie groß die Arbeit werden soll. Der Zuschnitt der in der endgültigen Größe auf Aludibond kaschierten Prints ist technisch anspruchsvoll und erfordert höchste Sorgfalt und Präzision.
Wie haben Sie zu dieser Vorgehensweise gefunden?
Als mir die Divergenz zwischen der Aufzeichnung durch die Kamera und dem menschlichen Sehen immer deutlicher bewusst wurde, war es irgendwann ein logischer und konsequenter Schritt, das fotografische Bild so „drastisch“ und doch auch konsequent meiner Wahrnehmung anzugleichen. Mein Eindruck war: die Möglichkeiten, die mir bleiben, wenn ich mich weiterhin innerhalb des gegebenen Bildausschnitts bewege, also diesen als gegeben hinnehme, reichen mir nicht mehr aus. Dann könnte nicht viel Neues entstehen und ich wäre zu stark eingegrenzt.
So habe ich begonnen, die Bilder zu beschneiden und diesen Ansatz immer weiter verfolgt und verfeinert. Während die Kamera alles in der Schärfeebene Befindliche gleichberechtigt abbildet, gewichtet das menschliche Auge: Es fokussiert auf den als interessant erachteten Bereich und schenkt dabei den restlichen Objekten im Gesichtsfeld weniger Beachtung. Die Reduktion durch das Beschneiden stellt für mich eine Methode dar, um die Fotografie an das menschliche Sehen anzugleichen. Indem ich von Unwichtigem absehe, mache ich das für mich Wesentliche stärker sichtbar. Mein Anliegen ist es, die bewusste Wahrnehmung des Betrachtenden zu aktivieren und die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums Fotografie auszuloten.
Welche Themen und Fragestellungen beschäftigen Sie?
Grundthema meiner künstlerischen Forschungsarbeit ist der Raum und die Wahrnehmung von Räumlichkeit. Ich verfolge einen erweiterten Bildbegriff und übertrage diesen auch auf die Fotografie, indem ich das gewohnte fotografische Bildformat durch Beschneiden verändere. Im Lauf der letzten Jahre sind zwei unterschiedliche Werkgruppen entstanden, die kamerabasierten shaped photographies und die kameralos erzeugten Fotogramme.
Mich beschäftigen Fragestellungen aus der abstrakten, konkret-konstruktiven Kunst. Meine Arbeiten untersuchen auch, wie sich diese mit dem Medium Fotografie umsetzen lassen.
Was interessiert Sie an der Architektur, an Räumlichkeit, an architektonischen Formen?
Architektur ist für mich Form und Raum gewordenes menschliches Bewusstsein. Indem der Mensch Raum schafft, grenzt er sich von der Natur ab. An den Bauten einer Kultur kann man ihr Verhältnis zur Natur ablesen. Mich interessiert Architektur als Bilden, Gestalten und Prägen von Raum – als Gegensatz zum „offenen“, unbegrenzten Außen- oder Naturraum.
Meine Diplomarbeit hatte den räumlichen Schatten zum Thema, auch das war gleichzeitig eine Art Zuwendung zur Architektur, zu gebauter, im Raum manifestierter und materialisierter Form – in Kombination mit dem flüchtigen Schatten.
Eine besondere Inspiration ist für Sie auch die Architektur von Walter Maria Förderer. Was macht sie so spannend für Sie?
Ihm ging es ebenfalls stark um die Wahrnehmung von Raum. Seine Kirchenzentren sind quasi begehbare Skulpturen – viele Elemente sind auf das ästhetische Erleben des Raums angelegt und haben keinen direkten funktionalen Nutzen. Aus seinen absolut eigenwilligen Sichtbetonbauten spricht für mich eine große Ernsthaftigkeit und Konsequenz im Denken und Gestalten von Raum, ein extremer Formgebungswille, verbunden mit dem Anspruch, mit Architektur Identität zu stiften. Er hat wirklich alles nach seinen Vorstellungen durchgestaltet, von der Raumhülle, die innen wie außen unglaublich komplex ist, bis zu den Leuchten, Möbelgriffen, Schirmständern…
Es sind Orte zum Erleben von Form, Raum und Licht. Daher sind sie so faszinierend für mich.
Wer inspiriert Sie noch? Gibt es weitere Vorbilder oder Einflüsse für Sie?
Meist eher Künstler als Fotografen, Ellsworth Kelly war früher sehr wichtig für mich; das entgrenzte Bild an der Schwelle zwischen Malerei und Objekt. Auch Beat Zoderers Arbeiten mag ich sehr sowie Kollegen, die sich mit Wahrnehmung beschäftigen (Jan Dibbets, Georges Rousse, Felice Varini, …)
Esther Hagenmaier, herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!