“Mit meinen Fotoarbeiten versuche ich, dem Betrachter eine neue Seh-Erfahrung oder Wahrnehmung zu ermöglichen, bei der über das Moment des Staunens ein Erkenntnisgewinn entsteht.” INTERVIEW mit Tobias Grewe

„Das ist doch digitalisiert. Das doch kein Foto!“ – so und ähnlich lauten häufig die ersten Reaktionen von Betrachtern, wenn sie durch Tobias Grewes Ausstellungen gehen. Tatsächlich aber sind seine Arbeiten nicht nur mit der Kamera – oder gar mit dem iPhone – aufgenommen, sie sind auch grundsätzlich unbearbeitet. Grewe betont, dass der Verzicht auf Bildbarbeitung, die heute zum gängigen Repertoire geworden ist, für ihn eine wesentliche konzeptuelle Entscheidung seiner künstlerischen Position ist. Die besonderen Effekte entstehen durch gezielte Auswahl der Motive und des Standpunkts, durch Über- und Unterbelichtung, ungewöhnliche Perspektiven, bewusste Abstraktion und Reduktion.

Stratifraction #3 - Bangkok, 2013

Stratifraction #3 – Bangkok, 2013

Zu sehen sind “Farbfeld”-ähnliche Farbflächen, futuristische Formen, Bullaugen, Hell-Dunkel-Strukturen … – allesamt Motive, die aus der Architektur kommen, dabei jedoch meist nicht sofort als solche zu erkennen sind. Er entdeckt seine Motive in Situationen urbaner Architektur und filtert die für ihn maßgeblichen Elemente heraus. Ob mit seinen „Colourfields“ und den „Refractions“ oder der neuen Serie der „Faltungen“, Grewe versucht immer, neue Seh-Erfahrungen zu schaffen.

In neueren Projekten geht er noch einen Schritt weiter – in den Raum: In Bezug auf die gegebenen Räumlichkeiten – etwa in den jüngsten Shows im Kunstverein Sundern-Sauerland oder auch im RAUM Düsseldorf – werden Fotografien in großformatigen Tapetenarbeiten zu Rauminstallationen verwandelt, durch die der tradierte Begriff des fotografischen Bildes erweitert wird. Im November werden Arbeiten von Tobias Grewe im DAAB Salon in Köln zeigen; dort wird auch eine erste Videoarbeit präsentiert.

Im Interview mit deconarch.com erläutert Tobias Grewe sein besonderes Interesse gerade an der Architektur und ihren Elementen ebenso wie seinen Anspruch an authentische Seherfahrungen und verrät, welche besondere Rolle der Zufall für ihn spielt.

all illus (c) Tobias Grewe,
www.tobias-grewe.de

INTERVIEW

In Ihren Arbeiten lenken Sie unseren Blick auf Architektur-Details, die üblicherweise nicht wahrgenommen werden. Wie kommt es zu diesem besonderen Interesse? 

Colourfields #1 - Cologne, 2011

Colourfields #1 – Cologne, 2011

Ich bin immer wieder fasziniert von architektonischen Details – dabei geht es mir aber eher um formale Momente, wie z.B. komplexe Überlagerungen, Wiederholungen, Farbenspiele oder besondere Strukturen. Darin spüre ich eine Energie, die in genau dieser Art von Details steckt und für die Bildfindung wichtig ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich dann alles reduziert auf nur dieses Detail, ohne das „ganze Drumherum“, das für mein Empfinden ablenkt.

Beim Fotografieren konzentriere ich mich auf genau das, d. h., ich lasse weg, was ich mit meinem sehr subjektiven Blick auf das gesehene Detail als „zu viel“ empfinde und künstlerisch in der Komposition nicht verwerten kann. Betrachter meiner Bilder sind oft verblüfft, sie denken „das ist doch bearbeitet …“ oder „das ist doch gemalt …“ und können oft nicht mehr erkennen, dass das, was sie sehen, ein unbearbeitetes Foto ist.

Mit meinen Fotoarbeiten versuche ich, dem Betrachter eine neue Seh-Erfahrung oder Wahrnehmung zu ermöglichen, bei der über das Moment des Staunens ein Erkenntnisgewinn entsteht. Nicht zuletzt zeigen mir Sammler, Interessierte oder Freunde Architektur-Motive auf ihren Smartphones, die sie so nie fotografiert hätten, wenn sie meine Bilder nicht gesehen hätten. Wenn Menschen durch meine Augen sehen – dort stehen bleiben, wo sie normalerweise vorbeilaufen –, dann habe ich schon viel erreicht.

Warum gerade Architektur-Details?

Ausgangsobjekt als Iphone Sketch #7, 2012

Ausgangsobjekt als Iphone Sketch #7, 2012

Mein Bildinteresse orientiert sich immer an Architektur, es geht aber dabei weniger um das Gebäude oder Objekt an sich, sondern vielmehr um das, was ich mit meinem Auge sehe bzw. „entdecke“. Und in solchen Momenten faszinieren mich meist Strukturen, komplexe Formen oder Farb-Momente, die ich etwa in Details von Fassaden, Dachkonstruktionen oder generell in konstruierten Objekten entdecke. Das muss aber nicht unbedingt Architektur im engsten Sinn sein, das kann eigentlich alles sein – von Abluftrohren einer Tiefgarage über ein modernes Glasgebäude bis hin zu einer Achterbahn.

Gehen Sie konzeptionell vor oder „finden“ Sie Ihre Motive spontan? 

Es ist eine Mischung aus konzeptuellem, aber vor allem auch sehr intuitivem Arbeiten. Ich beobachte urbane Räume und dort finde ich in der Regel meine Motive. Beim Fotografieren löse ich diese Details dann über die Wahl des Ausschnitts sowie durch besondere, teils extreme Perspektiven und unterschiedliche Belichtungen als Farben, Formen, Strukturen und sonstige Elemente aus ihren eigentlichen Architektur-Kontexten heraus und überführe sie so in neue Wahrnehmungsmöglichkeiten. Dieser Prozess des fotografischen Weglassens macht das visuell sichtbar, was ich vor meinem geistigen Auge gesehen und dabei gefühlt habe. Das Architektur-Detail wird dadurch „gegenstandslos“ gemacht. Dennoch ist „Architektur“ dabei der entscheidende Ausgangspunkt. So bekommt etwa ein Fassadendetail, so wie ich es fotografiere, einen eigenen, neuen kompositorischen Sinn in dem Bildraum, den ich ihm intuitiv beim Fotografieren „zuweise“ und so eine eigene neue Komposition schaffe. Es geht dabei um das Herausfiltern der „Essenz“. Abstraktion durch Reduktion sozusagen.

… die Motive selbst finden sich spontan, intuitiv?

Ich bin viel in der Welt unterwegs und es sind oft urbane Räume in großen Metropolen, wo ich immer wieder bei Architekturen auf Absurdes, Faszinierendes, Schockierendes und auch Komisches treffe, was ich in meinen Bildern verarbeite. Es sind oft ziellose Fahrten mit dem Taxi, einfach Schauen, Entdecken und die Intuition wirken lassen. Mit dieser motivlosen Aufmerksamkeit ist der Geist wach und entdeckt oft Vieles, wo andere dran vorbeilaufen.

Werden die Bilder digital bearbeitet?

Fotografische Skulptur „Colourfields – Die Stille Post“, 2012

Fotografische Skulptur „Colourfields – Die Stille Post“, 2012

Nein, ich verzichte komplett auf die digitale Nachbearbeitung. Ich möchte immer für den Betrachter eine 100% authentische Seh-Erfahrung schaffen, die unverfälscht das wiedergibt, was ich in dem jeweiligen Moment mit meinem Auge entdeckt und zu einem „Bild“, einer künstlerischen Arbeit gemacht habe. Das ginge sicherlich auch mit elektronischen Bildbearbeitungsprogrammen – aber für mich ist es ein wesentlicher konzeptueller Punkt in meiner künstlerischen Arbeit, eben auf diese Möglichkeiten zu verzichten – insbesondere gerade jetzt, in einem Zeitalter, in dem nichts mehr unmöglich ist.

Was hat es mit dem iPhone auf sich?

Das iPhone ist für mich wie der Skizzenblock für den Maler. Oft sehe ich tolle Dinge, die ich festhalten muss, insbesondere wenn ich meine Ausrüstung mal nicht dabei habe, und da ist das Smartphone immer ein praktisches Medium. Man hat zwar nicht die Möglichkeiten wie mit der professionellen Ausrüstung – aber man kann experimentieren und es entstehen oft tolle Ergebnisse – so dass ich mich dann irgendwann dazu entschlossen habe, auch diese iPhone-Skizzen zu veröffentlichen.

In Ihren Ausstellungen arbeiten Sie zunehmend auch mit den Räumen selbst, etwa in Ihrer jüngsten Show im Kunstverein Sundern-Sauerland oder auch in RAUM Düsseldorf. In welcher Weise nehmen Sie Bezug zu den Ausstellungsräumen?

Bei verschiedenen Projekten war der Ausstellungsraum zum Teil wie eine „Barriere“ – eine „Begrenzung“ oder „Vorgabe“. Dafür musste ich eine Lösung finden bzw. den Raum mit seinen Gegebenheiten überwinden. Der erste Anstoß kam über die Einladung, für den RAUM in Düsseldorf, der auf installative Arbeiten ausgerichtet ist, ein Ausstellungskonzept zu entwickeln. Es war klar, dass ich keine normale Bilderschau machen sollte. Aber was kann ein Fotograf sonst machen? Dieses Problem, diese Fragestellung, hat mich sehr beschäftigt – und gleichzeitig beflügelt. Ich hatte zu der Zeit gerade mit meiner „Colourfields“-Serie begonnen: Über extremen Ausschnitt und gesteuerte Überbelichtung der abstrakten Fotoarbeit habe ich die bunt bemalten Beton-Abluftrohre einer Kölner Tiefgarage mit einer davor stehenden Laterne zu zweidimensionalen Farbfeldkompositionen reduziert und abstrahiert. Dabei verschwammen alle Dimensionen: Hintergrund, Vordergrund, Flächigkeit, Dreidimensionalität.

Daraus ist dann die Idee für das Ausstellungskonzept entstanden, nämlich diese beiden abstrahierten Aufnahmen zurück in den dreidimensionalen Raum zu überführen.

Dazu stand jedoch nicht mehr die ursprüngliche Realität des Objekts zur Verfügung, sondern nur noch, was aus der Reduktion aus Ausschnitt und Überbelichtung herauszuholen war. Dabei galt es, die Realität nicht zu rekonstruieren, sondern nur zu zitieren. Ein stiller Prozess, der in seiner Kette „Realität – Reduktion – Wiedergabe“ beliebig weitergetrieben werden könnte. Fast so wie beim Kinderspiel „Stille Post“, bei dem sich eine Geschichte durch das Weitererzählen von Mal zu Mal verändert und mit dem Ausgangspunkt immer weniger zu tun hat. So auch bei meiner Ausstellung im RAUM: Realität als Ausgangspunkt der Geschichte, meine Weitererzählung in Form einer Abstraktion und schlussendlich das Hinzudichten von neuen Realitäten bei der Rückführung des Fotos in die Dreidimensionalität. Eine von mir erschaffene stille Post. So war auch der Ausstellungstitel geboren: „Colourfields – Die stille Post“ – eine Fotoskulptur sozusagen.

Auch in Sundern haben Sie mit einer großformatigen Tapetenarbeit den Ausstellungsraum in eine abstrakte Komposition verwandelt …

„Tobias Grewe – DESTILLAT“, Installation im Kunstverein Sundern-Sauerland (2,20 x 11 m)

„Tobias Grewe – DESTILLAT“, Installation im Kunstverein Sundern-Sauerland (2,20 x 11 m), 2014

In meiner letzten Ausstellung DESTILLAT habe ich dann auf einer leicht nach innen gebogenen, elf Meter langen Wand die perspektivisch extrem aufgenommene Bullaugen-Fassade eines Hotels in Bangkok gedoppelt und horizontal gespiegelt aneinandergesetzt und als Tapetenarbeit vollflächig auf diese Wand gespielt. Das Motiv wirkte so nach außen gebogen – also konvex – optisch der konkav geformten Wand entgegen. Ein irrer optischer Effekt, der diese riesige Wand völlig im Griff hatte.

In welchem Sinne ist der Titel der Ausstellung DESTILLAT zu verstehen? Und welche Rolle spielen die Titel an sich für Ihre Arbeit?

Titelfindungen für Arbeiten, aber auch für Ausstellungen sind immer ein ganz besonderer intellektueller Prozess und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit aus einer anderen Perspektive. Der Titel DESTILLAT ging aus einem der vorbereitenden Gespräche zu dieser letzten Ausstellung hervor, das ich mit den Kuratoren Julia Ritterskamp und Gérard Goodrow sowie der PR-Expertin Stephanie Kickum geführt habe. Ich wurde gebeten, noch einmal meinen künstlerischen Prozess mit eigenen Worten zu beschreiben. Nachdem ich meine Form der Abstraktion durch das fotografische Weglassen und Reduzieren über Ausschnitt, Perspektive, Belichtung und Blende dargestellt hatte, meinte Gérard Goodrow, „dass diese Art der Bildfindung bzw. Überführung von Architektur-Details in die Gegenstandslosigkeit eines abstrakten Bilder wie Alchemie sei, quasi das Herausarbeiten einer Essenz“. Darauf brachte Julia Ritterskamp das Ganze auf den Punkt mit der Frage: „Ein visuelles Destillat sozusagen?“ Über diese Formulierung war ich sofort begeistert und so wurde in diesem Gespräch der Ausstellungstitel „Destillat“ mit seiner Bedeutung im Kontext meiner Arbeit geboren.

Solche Gespräche sind immer wertvoll bei der Findung eines klammernden Gedanken, unter dem eine neue Werkreihe in einer Ausstellung präsentiert werden soll. Das ist immer sehr inspirierend, denn Kunsthistoriker und Presse-Leute schauen mit einem Helikopter-Blick auf meine Arbeit und bringen so neue Aspekte rein.

Wer inspiriert Sie? Gibt es Vorbilder?

Tobias Grewe – GUTE FAHRT! bei KKL / Showroom Tina Miyake, Düsseldorf, 2014

“Tobias Grewe – GUTE FAHRT!”, KKL / Showroom Tina Miyake, Düsseldorf, 2014

Es gibt verschiedene Vorbilder für mich. Aus der zeitgenössischen Fotografie ist es bestimmt Boris Becker, der mich immer wieder damit fasziniert, was er konzeptuell verarbeitet. Bei ihm staune ich immer wieder. Allerdings sind es auch die großen Maler der Moderne sowie der Nachkriegszeit, die die Realitäten in ihrer Malerei Schritt für Schritt in die Gegenstandslosigkeit der Abstraktion überführt haben, Mondrian etwa, Malewitsch oder aber auch der Urvater der amerikanischen Farbfeldmalerei, Barnett Newman. Ich fühle mich in meinem künstlerischen Schaffen den Gedanken dieser großen Meister sehr nahe.

Zum Abschluss noch ein wenig „Grundsätzliches“ – warum arbeiten Sie mit Fotografie?

Die Kölner Kuratorin und Kunsthistorikerin Barbara Hofmann-Johnson hat zu dieser Fragestellung in meinem vorletzten Katalog „Who’s Afraid of Photography?“ ein wunderbares Zitat von Magdalena Kröner gebracht, die die Antwort direkt auf den Punkt bringt:

„Abstrakte Fotografie ist eine künstlerische Setzung, die mit einem grundsätzlichen Widerspruch operiert: sie agiert naturgemäß zwischen Fotografie als klassischem Dokument und dem Fotografischen als Wunschmaschine, welche Bilder zu generieren in der Lage ist, deren Ursprünge und Referenten weder erkennbar noch nachvollziehbar bleiben.“*

Tobias Grewe, herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!

(*Magdalena Kröner, „Form, Fragment, Formation. Aktuelle Tendenzen der abstrakten Fotografie“, in: Kunstforum International, Bd. 206: Neue Abstraktion, hg. von Sven Drühl, 2011, S. 107)

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