„Die Visualisierung von Raum ermöglicht das Nachdenken über Raum.“ INTERVIEW mit Gisela Hoffmann
Eine Linie ist per definitionem zweidimensional. Als Verbindung zweier Punkte bedeutet sie grundlegende Geometrie, man hat die Tafelbilder aus dem Mathematikunterricht vor Augen, die in die euklidische Geometrie einführen: aus einem Punkt wird eine Linie, mit einer zweiten Linie formt sich eine Fläche, durch eine dritte Linie dehnt sich die perspektivische Darstellung räumlich aus. Auf dieser simplen Grundlage basieren die etablierten Perspektiv-Techniken, die es (nicht nur in der Kunst) erlauben, dreidimensionale Objekte auf einer zweidimensionalen Fläche so abzubilden, dass dennoch ein räumlicher Eindruck entsteht. Unser Sehen ist in dieser Art des Konstruierens geschult, Bilder werden unweigerlich zu einem räumlichen Ganzen ergänzt und treten so vor das innere Auge.
Gisela Hoffmann hingegen überträgt in ihren minimalistischen Installationen die gewohnte Linearperspektive buchstäblich in den Raum zurück. In ihren “Raumlinien” erschließen reduzierte Linien neue Räumlichkeit. Sie zeichnet gewissermaßen Linien in den Raum hinein. Die Architektur wird zum Bildträger, in der Installation wird Räumlichkeit physisch erfahrbar – und das paradoxe Wesen von Raum “sichtbar”: Man befindet sich stets im Raum ohne ihn jedoch “sehen” zu können. Sichtbar wird Raum erst im Verhältnis von zwei Objekten zueinander, als “Zwischen-Raum”.
Aktuell ist eine ortsbezogene Installation von Gisela Hoffmann in der Ausstellung “neon – vom Leuchten der Kunst” im Museum für konkrete Kunst in Ingolstadt (bis zum 09.03.14) zu sehen.
Im Interview mit deconarch.com spricht Gisela Hoffmann über ihr besonderes Interesse am Raum, beschreibt ihre Faszination für Lineaturen und gibt Einblicke in ihren Arbeitsprozess.
all illus. (c) Gisela Hoffmann,
www.hoffmann-gisela.com
INTERVIEW
Viele Ihrer Arbeiten basieren auf der reduzierten Kombination von Linien, die RAUMLINIEN etwa. Wie haben Sie zur Linie als (einer ihrer) wichtigsten Ausdrucksform gefunden?
Als bildende Künstlerin arbeite ich nach dem Prinzip „Weniger ist mehr“. Ich setze meine Materialien reduziert und gezielt ein. Der Mehrwert liegt dort, wo wenig genügt, um viel zu denken.
Oder um es mit einem Zitat von Laotse zu sagen:
„das Sichtbare bildet die Form des Werkes,
das nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus“
starr oder doch beweglich
linie oder doch kontur
leere oder doch fülle
… verändernd
(Gisela Hoffmann)
Es war schon immer mein Bestreben, Hilfskonstruktionen zu vermeiden, stattdessen materialgerecht zu arbeiten und unsinnigen Ballast beiseite zu lassen. So benötige ich etwa für “raumlinien 26” nur zwei Linien, die aber durch ihre Anordnung zwei in Gedanken fortlaufende Linien andeuten. Diese Lineaturen erzeugen einen neuen, offenen Raum, sie sind raumgebend.
Wenn ich meine transparenten Polyesterbänder über Wände, Decken und Böden spanne, so wird der architektonische Raum zu meinem Bildträger. Meine RAUMLINIEN werden direkt physisch erfahrbar, indem man die Installation umgeht. Leere, Luft, Distanz, Dichte, Transparenz, Form, Gegenform und Volumen werden körperlich erfahrbar. Die Visualisierung von Raum ermöglicht das Nachdenken über Raum, den speziellen Ausstellungsraum oder über Raum an sich.
Raum – und Zeit – sind die zentralen Themen Ihres Schaffens. Warum die Beschäftigung mit Raum?
Täglich bewegen wir uns durch die verschiedensten Räume: vom Ruheraum in den Arbeitsraum, vom Privatraum in den öffentlichen Raum oder vom urbanen Raum in den Naturraum. Raum war und ist ein ganz zentrales Thema in unserer Gesellschaft.
Stets geht es darum, Raum zu nehmen und Raum zu geben.
Aber es gibt auch andere Räume – Bewegungsräume, Handlungsräume, Kommunikations- und Möglichkeitsträume. Unsere Zeit bringt neue Raumstrukturen hervor, die geprägt sind von Modularität und Mobilität. Denken wir nur an die digitale Vernetzung und ihre virtuellen Räume. Mit dem Raumgedanken geht immer auch der Zeitraum einher.
In meinen Arbeiten lade ich den Betrachter zu einem Perspektivwechsel ein, zum ANDERS SEHEN.
Wie kam es zu diesem besonderen Interesse am Thema Raum?
Das Bedürfnis nach dreidimensionalem Gestalten war schon früh vorhanden. Als Kind begeisterte mich das räumliche Zeichnen. Ich wollte das zeichnen, was ich sah. Und mein ehemaliger Professor an der Kunstakademie in Nürnberg, Stefan Eusemann bemerkte einmal, dass ich ein Konstrukteur sei.
Ich glaube, dass dieses räumliche Empfinden schon früh in meiner Kindheit verankert wurde, einerseits durch meine Familie, andererseits auch durch meine Kindheit auf der Insel Fehmarn. Die Insel gab mir viel Freiraum, der Horizont wurde mein täglicher Begleiter. In der Studienzeit wollte ich den Dingen dann auf den Grund gehen. Es kristallisierten sich drei Basiselemente heraus, mit denen ich mich nach und nach beschäftigte: Materie, Raum und Zeit.
Wie finden Sie Motive und Themen?
In der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort. In der Arbeit OSMOSE etwa, die sich an der Außenfassade des Museums für konkrete Kunst in Ingolstadt befindet, geht es um das Verhältnis vom Innen- zum Außenraum, von privaten und öffentlichen Raum, von Museums- und städtischen Raum.
Der Titel gibt schon einen Hinweis auf die Durchdringung von Innen- und Außenraum. Die ortsbezogene Arbeit nimmt die Rhythmik der Fensterreihen an der Nordfassade auf und betont deren Leerstellen. Die Signalfarbe orange verstärkt die Wirkung. Im Gebäudeinneren befindet sich an gleicher Stelle eine Gegenform. Der Besucher erfährt die Gesamtheit der Arbeit also erst, wenn er sich durch den Raum bewegt. Von außen wird ein fokussierter Blick auf die Museumsexponate gelenkt und von innen weitet sich der Blick nach außen in den städtischen Raum.
Welche Bedeutung haben die verschiedenen Farben?
Mit den industriell hergestellten Materialien wie Acrylglas und Polyestergewebe nutze ich auch deren Farbpalette. Um meiner Intention von Transparenz zu entsprechen, stehen mir im Falle des fluoreszierenden Acrylglases acht Farben zur Verfügung.
In erster Linie interessieren mich Farben wie Rot und Orange wegen ihrer Signalwirkung und der Präsenz, die sie im Raum zeigen.
Rot steht natürlich auch für Leidenschaft und Dynamik, Orange ist eine erdige Farbe und strahlt Wärme aus. Grün dient mir als Komplementärfarbe. Ebenso nutze ich die Farbe Gelb, wenn es mir um das Lichte geht.
Wie ist Ihr Arbeitsprozess?
Jede neue Installation bedarf der vorherigen Ortsbesichtung. Fotos von der Raumsituation, dienen mir nicht nur als Gedankenstütze. Mit Hilfe des Computers setze ich meine ersten unmittelbaren Linien in die Bilder. Danach konfektioniere ich meine Bänder – färbe sie, bringe sie auf Länge und Breite. Mit diesem Rüstzeug gehe ich an den Installationsort. Der zweite Ortsblick bewirkt meist kleinere Korrekturen, manchmal auch eine komplette Neuorientierung, wenn sich der Umraum verändert hat.
Für mich muss ein Raum atmen können und nicht mit Reizen überflutet werden. In der Reduktion liegt die Fülle.
Mit welchen Materialien arbeiten Sie und warum?
Licht, Leichtigkeit, Transparenz und Offenheit sind definierende Eigenschaften in meinen raumgebenden Installationen, ob in Material, Form oder Farbe.
Mein Polyestergewebe ist ein zeitgemäßes, hoch technisches Materialgefüge, das sich zudem durch Flexibilität auszeichnet. In kleinen transparenten Schachteln verpackt ist es die transportable Lösung für den modernen Nomaden. Eine Kunst, die sich entfaltet.
Dem Material eigen ist auch die Moiréebildung, Sie bringt den zeitlichen Aspekt in meine Arbeit. Bei diesem optischen Effekt, scheint das Gewebe zu vibrieren, wenn der Betrachter das Werk umschreitet.
Mit der Lichtlinie des fluoreszierenden Acrylglases kommt ein weiterer Aspekt hinzu: die Auflösung des Materials im Auge des Betrachters, eine scheinbare Entmaterialisierung. Das leuchtend orangefarbene Acrylglas an der Außenfassade des Museums für konkrete Kunst zeigt zudem Signalwirkung, spiegelt an seiner Oberfläche die Umgebung wieder und greift energetisch in den Raum.
Würden Sie uns noch eine Arbeiten näher vorstellen?
Ein Horizont dient uns zur Orientierung. Er zeigt unsere paradoxe Grenze des Sehens. Wechseln wir unseren Standpunkt, ändert sich die Sichtweite und somit unser Wahrnehmungshorizont.
Das Werk lädt ein, es zu unterschiedlichen Tageszeiten zu entdecken, um die verschiedensten Rottöne, die energetisch in den Raum greifen, sowie seine die Umgebung reflektierende Oberfläche wahrzunehmen. Das fluoreszierende Material sammelt das auftreffende Licht an der Oberfläche und gibt es unmittelbar an seinen Schnittkanten wieder ab. So kann ich an genau definierten Stellen, das Licht wieder austreten lassen.
Oder aber “swarming”, so habe ich eine Arbeit genannt, weil mich die Kommunikationswege (Lineaturen) und das Schwarmverhalten im sozialen Netzwerk interessieren.
Der Kommunikationsraum web 2.0 ermöglicht Wissen und Kreativität in Realzeit global nutzbar zu machen. Das hat, wie alles im Leben, zwei Seiten. Aber das Faszinierende ist der Aufbau eines sozialen Netzwerkes, das unserem Gehirn ähnlich ist. Je mehr Vernetzungen, desto größer das nutzbare Potenzial an Wissen. So sind auch meine Cluster entstanden, die Netzwerkdichte beschreiben.
Gibt es weitere Inspirationen, Vorbilder für Ihr Schaffen?
Inspirationsquell ist in erster Linie der Ort, für den ich etwas schaffe. Die Architektur, ihre Geschichte und die Menschen darin fließen in meine Arbeit ein, sie tragen sie mit.
Ein Vorbild gibt es dagegen nicht. Aber es gibt Werke von bildenden Künstlern – Richard Serras „Tilted Arc“ oder Franz Erhard Walthers „Handlungsräume“ etwa -, von Architekten (Tadao Ando „church of light“ ) oder auch Gedanken von Philosophen wie Paul Watzlawick oder Hans-Georg Gademer, die ein bestimmtes Gefühl in mir auslösten, so dass ich über meine eigene Arbeit neu nachdachte.
Zu guter Letzt die schwierigste Frage: Warum Kunst? Welche Möglichkeiten bietet Ihnen die künstlerische Arbeit?
Weil ich meinen Gedanken freien Lauf lassen kann.
Weil ich selbst etwas schaffe, schöpferisch tätig sein kann.
Weil ich Disziplinen übergreifend arbeiten kann.
Weil die künstlerische Arbeit mir den größtmöglichen Freiraum gibt.
Weil ich im besten Fall ein Thema transportiere, das im Betrachter etwas auslöst oder ihm einen anderen Zugang ermöglicht.
Gisela Hoffmann, herzlichen Dank für die Einblicke in Ihre Arbeit!
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