Thoughts on ARTitecture
El Lissitzky, Gordon Matta-Clark, Vito Acconci, Thomas Demand … – Warum machen Architekten Kunst? Welchen Einfluss hat ein beruflicher Background in der Architektur auf künstlerische Arbeiten? Warum setzen sich bildende Künstler mit Architektur auseinander? Was weckt das Interesse von Künstlern daran, sich mit architektonischen Strukturen auseinanderzusetzen?
Thinking ARTitecture
Die abgrenzende Unterscheidung zwischen Architekten und bildenden Künstlern mag im ersten Augenblick provokant erscheinen. Zählt nicht die Architektur als Lehre vom Konstruieren von Gebäuden und das Gestalten von Raum seit jeher zu den schönen Künsten? In der Tat ist die zugespitzte Formulierung beabsichtigt: Denn weniger die Trennung zwischen den sogenannten Bildenden Künsten und der Architektur soll in den Blick genommen werden, als vielmehr die Frage nach ihren Schnittstellen.
Es geht um Architekten, die Kunst machen und sich damit für ein anderes Ausdrucksmedium entschieden haben als dem „von Haus aus” gelernten. Es geht um Künstler, die sich in ihrer Arbeit mit Bauten, mit architektonischen Strukturen, mit urbanistischen Fragstellungen beschäftigen.
ARTitecture will die Schnittmenge der beiden Disziplinen bezeichnen, den Bereich, in dem sich Malerei, Skulptur, Fotografie, Video, Neue Meden, Installation, … und Architektur treffen. Lässt man Disziplinengrenzen hinter sich, gibt es überraschend viele Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Was ist ARTitecture? Was kann ARTitecture?
Thinking about architecture …
Architektur als Baukunst bedeutet mehr als das formale Errichten von Gebäuden, als Ingenieurswesen im engeren Sinne. Architektur ist das Denken und Gestalten von Raum als einer wesentlichen Facette des menschlichen Lebens: Einen Großteil unseres Alltags verbringen wir in gebauten Räumen – nicht umsonst spricht man von „Lebens-Raum“. Architektonische Formen beeinflussen unser Leben auf kultureller und sozialer, auf politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Ebene ebenso wie in individueller und kommunikativer Hinsicht.
Schon eine einfache bauliche Konstruktion wie eine Mauer kann einen nachhaltigen Einfluss auf das alltägliche Leben der Menschen ausüben. Die Berliner Mauer etwa ist Beispiel dafür, wie ein solches simples Bauwerk über Jahrzehnte hinweg nicht nur eine Nation in gesellschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht bestimmt hat, sondern auch das Geschehen auf globaler Ebene. In ähnlicher Weise sind diese lebensbestimmenden Auswirkungen eines technisch im Grunde genommen einfachsten Gebildes etwa auch in Zypern, Irland oder Israel und nicht zuletzt im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko zu beobachten.
In umgekehrter Weise lässt sich hingegen etwa im kolumbianischen Medellín beobachten, wie durch architektonische Eingriffe Stadtraum – und damit neue Lebensqualität – geschaffen wird: Durch die Anbindung der Barrios an die Stadtzentren mittels Seilbahnen wird die Wohlstandsschranke ein wenig gelockert und ein kleiner Schritt der Annäherung zwischen Arm und Reich erreicht; durch neu errichtete, wegweisende Kulturbauten wie der Bibliotheca España gelingt die Wieder-Erschließung des öffentlichen Raums, wo zuvor unter dem Zwang allgegenwärtiger Kriminalität der Rückzug ins Private vorherrschte.
Wie einflussreich Architektur-Formen sind, hat sich vor nicht allzu langer Zeit auch im sogenannten „Minarett-Streit“ in der Schweiz gezeigt, in dem sich der Disput an einem architektonischen Detail entzündet hat, obwohl es letztlich um kulturelle und gesellschaftliche Entscheidungen ging. Dennoch hat sich die Frage an einem Baudetail festgemacht, denn: „Daran wird die kulturelle Veränderung unseres Alltags nach außen sichtbar. Man kann einen Bau nicht wegdenken. Er steht in der täglichen Welt“ (Peter Zumthor).
Aber auch auf persönlicher Ebene entfaltet Architektur großen Einfluss. Daniel Libeskind etwa beschreibt eine Art „architektonisch-räumlicher Erinnerung“, die persönliches Erleben mit Bauten verknüpft: „Wir denken nicht an die Naturwissenschaft, sondern an die Architektur, wenn wir von Raum oder Zeit in Bezug auf unsere Erfahrungen und Erinnerungen sprechen.“ Libeskind formuliert damit eine Beobachtung, die wir in sehr viel einfacherer Weise immer wieder in unserem Alltagsleben machen können: Erinnerung und Vorstellungen werden meist (auch) mit räumlichen Bildern verbunden – sei es das Studium an der Universität mit Hörsälen, Bibliotheken und Mensa, sei es „Zuhause“ mit dem alten Kinderzimmer, dem Garten, mit der Großmutter in der Küche. Ganz in diesem Sinne stehen auch unsere imaginären Bilder von Metropolen mit Bauwerken in Verbindung – was wäre Paris ohne Eiffelturm, London ohne Tower Bridge, New York ohne Wolkenkratzer?
Hierin liegt auch das Bedürfnis vieler Städte, durch auffällige Bauwerke urbane Skylines zu schaffen, um die Wiedererkennbarkeit der Metropolen zu steigern, wie dies in den vergangenen Jahren vor allem im arabischen und chinesischen Raum teils bis zum Exzess geschehen ist und noch geschieht.
Darüber hinaus spiegelt sich auch in vielen Formulierungen und Redewendungen, die Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden haben, wider, wie groß der Einfluss gebauter Strukturen auf das menschliche Leben auch im übertragenen Sinne ist: Man will mit dem Kopf durch die Wand oder einen Blick hinter die Fassade werfen, man mauert sich ein oder gegen jemanden. Argumente werden untermauert und fundiert – übrigens auch in anderen Sprachen: Auch Engländer, Franzosen und Italiener etwa „fundieren“ ihre Statements (“found”, “fonder”, “fondare”).
Dennoch nimmt die Mehrheit der Menschen den vielschichtigen Einfluss der gebauten Umgebung auf das eigene Leben ebenso wenig bewusst wahr, wie die Bedeutung, die architektonische Elemente auf Kultur und Gesellschaft, auf Politik und Wirtschaft haben. Funktionale Nutzbauten wie Büros, Wohngebäude, Werkhallen, denen man tagtäglich begegnet, werden in ihrer Gestaltung nicht beachtet. Allenfalls außergewöhnliche Bauwerke aus vergangenen Zeiten oder extravagante moderne Bauten werden bemerkt und gegebenenfalls diskutiert. Die allgemeinen architektonischen „Hüllen“ unseres Alltags hingegen werden hingenommen, ohne ihnen viel Aufmerksamkeit zu widmen – erstaunlich, vergleicht man, welches Interesse etwa einer anderen alltäglichen „Hülle” entgegengebracht wird: der Kleidung.
Angesichts der Bedeutung von Architektur, die nicht nur das menschliche Lebensumfeld gestaltet, sondern auch die kulturelle und historische Identität wesentlich mitformt, eine überraschende Situation, die deutlich macht, wie wichtig es ist, über Architektur in ihren vielfältigen Facetten nachzudenken und sich ihres Einflusses bewusst zu werden.
… and thinking (about) ARTitecture
Daher bedeutet das Nachdenken über Architektur wesentlich mehr als die Auseinandersetzung mit Fragen des praktischen und funktionalen Bauens. Es schließt nicht nur Fragen des Raums, der Raumgestaltung und des Urbanismus ein, sondern auch des „Wie leben wir” und des Einflusses architektonischer Strukturen auf unsere Lebensbedingungen in kultureller, sozialer, ökonomischer, politischer, ökologischer Hinsicht. Diese Vielschichtigkeit macht es notwendig, über akademische Grenzen hinaus ein Bewusstsein für die Bedeutung unserer architektonischen Umwelt zu schaffen, die Wahrnehmung dafür zu schärfen und zu sensibilisieren.
Mit den Mitteln der Kunst kann die Aufmerksamkeit aus einer anderen Perspektive auf die Architektur und ihre vielfältigen Einflüsse gelenkt werden. Durch Standpunktwechsel weg von der “typischen” Perspektive aus dem akademischen Fachbereich wird eine Erweiterung des Blickfeldes erreicht – sowohl für die Aufmerksamkeit der allgemeinen Öffentlichkeit, deren Interesse für das Gebiet geweckt wird, als auch für die Fachleute selbst: ARTitecture öffnet den Blick für die Vielfalt und Bedeutung von Architektur über die üblichen Disziplinengrenzen hinaus, sie erweitert das Blickfeld und bietet andere, oft auch neue und überraschende Perspektiven auf das Themengebiet.
Eine künstlerische Herangehensweise eröffnet mehr Freiheiten in der Auseinandersetzung mit der Architektur, als es klassische akademische Methoden ermöglichen, und ermutigt so zum Denken „off the beaten tracks”. Ohne sich mit Fragen der Funktionalität und Realisierbarkeit aufhalten zu müssen, kann die künstlerische Perspektive frei reflektieren und beobachten, sie kann kritische Statements machen und auf Missstände hinweisen, sie kann visionäre Ideen entwickeln und Spielraum für Kreativität und Ideen bieten.
Zahlreiche – nicht nur – zeitgenössische künstlerische Positionen beschäftigen sich mit Gebäuden, mit architektonischen Elementen, mit Raum und Räumlichkeit. Hier ist vor allem die Fotografie zu nennen, die Aufnahmen von Bauten in unterschiedlichster Weise zum Thema macht – sicher nicht ohne Grund, denn die heutige Omnipräsenz von gebauten Strukturen, die den menschlichen Alltag prägt wie kaum ein zweites, gleichzeitig jedoch erstaunlich wenig bewusst wahrgenommen wird, weckt das Interesse der fotografischen Beschäftigung mit der Alltäglichkeit und an der Abbildung der „Realität“. Aber auch in der Malerei, Skulptur, Videos, … lassen sich facettenreiche Auseinandersetzungen mit dem Thema beobachten.
ARTitecture will die Vielfalt dieser Ansätze sammeln und zeigen, wie zeitgenössische Künstler Architektur und Gebautes in seiner Vielfalt reflektieren und eigene spezifische Lösungen entwicklen. Durch die „Verschlagwortung” soll ein Phänomen greifbarer gemacht werden, das sowohl in der Kunst als auch in der Architektur bekannt ist, sich aber am Rand beider Disziplinen bewegt und selten explizit als solches in den Blick genommen wird. Dabei will die ARTitecture gerade nicht bestimmte inhaltliche Ausrichtungen festsetzen und andere ausschließen, sondern es ist viel mehr das Ziel, ganz unterschiedliche Lösungsansätze und Herangehensweisen an die Thematik zu sammeln und zu bündeln, um das Spektrum der Denkansätze sichtbar werden zu lassen – sowohl in seiner künstlerischen Vielfalt als auch in seiner Bedeutung für die Architektur. (Simone Kraft)